Nur wer Karlsruhe selbst erlebt, wird sein Geheimnis ergründen.
Es ist ein Moment größten Erstaunens und unerwarteter Faszination. Unvergesslich. Wer vom Campus des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) kommend den „Zirkel“ hinunterfährt und, einer Laune folgend, nach rechts in die Kaiserstraße biegt, bemerkt kaum, dass sich die Häuserzeile ins Freie öffnet. Der Blick hebt sich – und die Musikbox im Kopf spielt spontan Händel, weil es so perfekt passt. Sotto voce…
Karlsruhe. Ein Ort wohliger Badener Bürgerlichkeit – so das allfällige Klischee. Als Standort des Bundesverfassungsgerichts ein Hort der Demokratie. Hier, so hieß es, sei das ideale Umfeld für das Gedeihen mittelständischen Unternehmergeistes entstanden. Dass Götz Werner in Karlsruhe die Firmenzentrale seines immens erfolgreichen Drogerie-Imperiums „dm“ verankerte und nicht in eine Deutsche Megatropolis abwanderte, ist nur einer der zugkräftigen Beweise für diese Behauptung. Also kein Klischee.
Keinesfalls ein Taxi bestellen, um die Stadt zu erkunden! Stattdessen lieber eines der unzähligen Leihräder besteigen.
Denn die Radfahrer-Skepsis verwandelt sich in Ver- und Bewunderung: Breite Straßen, von Grünanlagen gesäumt – und nicht ein einziges Auto darauf unterwegs – „Fahrradstraße“. Eine von vielen. Radeln nach Herzenslust. Sogar in Schlangenlinien! Wer je in einer deutschen Großstadt Rad fuhr, wird es kaum glauben. Denn Karlsruhe ist offiziell die radfahrerfreundlichste Großstadt Deutschlands.
Der „Zirkel“ – ein Schmuckstück. Des Abends würde es niemanden wundern, hier Paare in feiner Kleidung des Biedermeier flanierend zu treffen. Nun gut, das Idyll ist nicht vollkommen. Noch fordert hier und dort der Innenstadtverkehr seinen Tribut. Aber das stete Durchschimmern der Moderne macht den Kontrast zur Tradition nur noch reizvoller.
Und dann jener magische Moment am Ausgang der Karl-Friedrich-Straße: Ein Platz von überwältigender Präsenz. Begrenzt von Bäumen, deren Grün das perfekte Bühnenbild für die Doppelreihe weißer Statuen bildet, die ein gewaltiges Dreieck säumen. Barocke Göttinnen. Bacchus, ein Kind wiegend. Ein Heroe im Kampf mit einem Löwen. Am Kopf des Parks ein Schloss, dessen zwei Flügel das Areal umarmen. Strahlend gelb im Sonnenlicht. Gräfliche Grandezza. Der Schlosspark. Perfekt inszeniert von Stadtgründer Markgraf Karl Wilhelm von Baden-Durlach.
Es ist im Sommer, wenn sich dieser Ort magisch verändert. Dieses Schloss wird verzaubert. Nun ja, natürlich nicht übersinnlich. Sondern im Gegenteil: Sehr sinnlich. Bei den jährlichen „Schlosslichtspielen“ verwandelt sich die Schlossfassade sprichwörtlich zur Projektionsfläche künstlerischer Fantasien. Auf dem Schlosspark sitzend, Picknick-Korb und Decke, der Musik und den magischen Bildern hingegeben… Leise knarrend öffnet sich eine unentdeckte Tür im Kopf und es strömt berauschend regenbogenfarbenes Licht heraus. Unvergesslich.
Welch ein Kontrast am nächsten Morgen! Die fantastischen Visualisierungen „nicht skalierbarer Netzwerke“ des Physikers Albert-László Barabási im weltbekannten Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe (ZKM). Das Netzwerk eines Mäuse-Gehirns als 3D-Druck. Eine Farbexplosion entpuppt sich als die Darstellung der wissenschaftlich nachgewiesenen Interaktion von Zutaten einer Pizza.
Doch dann streben alle ins Erdgeschoss. Zukunftskunst. Jedenfalls damals, 1992. Als der Video-Künstler Nam June Paik seine „Versailles Fountain“ schuf. Jener Paik, der das endgültige Plädoyer für die Unvollkommenheit sprach: „Wenn zu perfekt, lieber Gott böse“…
Beides, das ZKM und die Schlosslichtspiele, haben international Eindruck gemacht. Bis in die Vereinten Nationen. Darum wurde Karlsruhe 2019 als erste Deutsche Großstadt zur „UNESCO City of Media Arts“ gekürt.
Nun wird das Faszinosum Karlsruhe klar: Der stete und überall sichtbare Kontrast zwischen erhabener Tradition und mitreißender Avantgarde generiert einen Spannungsbogen, der die Energie dieser Stadt liefert. Es reichen keine Youtube-Videos oder Instagram-Fotos, nicht einmal dieser Text. Nur wer selbst zu Fuß vom Schlossgarten hinüber zum KIT gegangen ist, spürt dieses besondere Flair.
Es muss nicht immer das Schloss sein. Ein weiterer Selbstversuch steigert noch die Energie.
Gleich nach der Öffnung, mutterseelenallein in der Staatlichen Kunsthalle mit dem „Felsenriff am Meeresstrand“ von Caspar David Friedrich, dem „Urteil des Paris“ von Lucas Cranach. Geniale Kunstwerke, die in Hunderten von Jahren niemals ihre magische Ausstrahlung verloren.
Ab sofort ist die Kunsthalle allerdings geschlossen. Nein, nicht für immer. Das Gebäude wird komplett renoviert. Eine Titanen-Aufgabe. Tausende Kunstwerke müssen verpackt, verladen und an andere Orte der Stadt verbracht werden, um dann dort vorrübergehend Asyl zu finden. Es werden sogar Fenster ausgebaut, um großformatige Kunstwerke ins Freie zu bekommen.
Nachmittags dann ein Streifzug durch den „Kreativpark“. Der ehemalige Schlachthof im Osten der Stadt ist das Pendant zur Hamburger Schanze oder dem Kreuzberger Kiez in Berlin. Schräg, alternativ, witzig. Auch hier die einmalige Karlsruher Paarung von Pop und Perfektion – oder Trash und Tradition: In einem kleinen, hutzeligen Nebengebäude, das von außen aussieht wie eine bunte Kreativwerkstatt, maßschneidert Kerstin Brandt die berühmten roten Roben und Baretts der Karlsruher Verfassungsrichterinnen und -richter.
All diese Eindrücke kristallisieren sich abends in einem Glas Wein. Die „Oberländer Weinstube“ verkörpern Karlsruhe wie kaum ein anderer Ort der Stadt. Als habe Spitzweg hier als Innenarchitekt gewirkt – und Paul Bocuse als Berater des Küchenchefs. Gediegene Holzpaneele an der Wand kontrastieren mit einem Werk moderner Küchenkunst: „Filet vom Wolfsbarsch auf Krustentierbolognese und Zuckerschoten“.
So wird dieses Restaurant, dieser Ort, zur Manifestation der Seele Karlsruhes. Diese Stadt hat etwas in Deutschland wohl Einmaliges geschaffen. Etwas, das sich einzig und allein nur dem erschließt, der es selbst erlebt: